Go, Senegal!
» gepostet am 05.03.07 um 10:52 Uhr
"Go Ghana, go Ghana!". Unser ghanaischer Betreuer Anas ist völlig aus dem Häuschen. Sein Land, Ghana, wird fünfzig Jahre alt! Fünfzig Jahre, seit Ghana seine Unabhängigkeit erlangt hat, seit ein kleines Land begonnen hat zu blühen und seitdem ständig wächst und gedeiht. Die Feierlichkeiten werden groß und prächtig sein, Musik und Tanz in ganz Accra, überall wehende Flaggen, Ghana wird 50. Auch Anas hat sich eine Flagge gekauft. Rot-gelb-grün gestreift, mit schwarzem Stern in der Mitte. Nur leider sind die Streifen vertikal und es handelt sich somit um die Flagge von Senegal. Aber dafür hat er sie auch recht günstig bekommen. Und ob nun vertikal oder horizontal, das ist ja wohl wirklich Haarspalterei.
Morgen ist es also so weit, Ghana wird 50. Wie das genau aussehen wird, kann ich mir noch nicht so recht vorstellen, aber die ganze Stadt wird wohl am Feiern sein, vermutlich wird das Ganze ein wenig an die WM letzten Jahres erinnern. Morgens und mittags werden am Independence Square Reden geschwungen, am Nachmittag und Abend scheinen am Strand die größten Feierlichkeiten stattzufinden. Ich selbst werde morgens vermutlich erst einmal mit den Mitarbeitern des "Enquirer" unterwegs sein und fotografieren, soweit das möglich ist und ich nicht völlig in der Masse untergehe. Ansonsten scheint mir das eine hervorragende Gelegenheit für gute Fotos zu sein.
Das Wochenende habe ich am Kokrobite-Strand verbracht, ein hübsches Plätzchen unweit von Accra. Eigentlich hab ich fast ein schlechtes Gewissen, angesichts des Luxus, den ich dort genossen habe. Übernachtung im Hotel für 250.000 Cedi, Essen beim Italiener. Auch wenn es sich hierbei um keinen richtigen Italiener handelt, sondern eher ein kleines Gartenrestaurant; und die Pizza sieht auch nicht ganz so aus wie in Europa, aber zwischen Reis, Salat und ghanaischen Spezialitäten ist auch die ungewöhnlichste Pizza eine willkommene Abwechslung.
Abends war Reggae-Party angesagt, inmitten von Palmen, romantisch beleuchtet von bunten Lichterketten und Mondschein. Zu Reggae hab ich allerdings immer noch nicht so richtig den Zugang gefunden, ob das noch wird, weiß ich nicht. Immer offensichtlicher werden auch die unterschiedlichen Lebensarten, die sich in einem gewissen Maß auch in der Musik wiederspiegeln. Europa ist hektisch, Europa hört viel Rock, House, Trance. Stark verallgemeinert, aber es soll ja nur als Beispiel dienen. Ghana ist entspannt, "There is no hurry in life", Ghana hört Reggae und ein wenig Dancehall. Aber hauptsächlich Reggae. The sun is shining. No woman, no cry. "I am so sick of reggae", hörte ich gestern ein britisches Mädchen im Trotro sagen.
Und dementsprechend funktioniert auch das Leben. In Europa modern, schnelllebig, technisch, auf Erfolg und Effizienz ausgerichtet, ein Stück weit egoistisch. In Ghana gibt es keine Hektik, keine Schnelllebigkeit, kaum Technik. Und doch macht zumindest das Treiben hier in Accra einen relativ stressigen Eindruck, was aber hauptsächlich an den vielen Menschen und der Lautstärke liegt, wirklich Eile hat hier niemand. In Ghana macht jeder irgendwie sein eigenes Ding, Hauptsache, es reicht zum Leben. Nicht viel arbeiten, kein großartiges Streben nach einem besseren Leben, kein Luxus, stoisch lebt der Ghanaer vor sich hin. Der Europäer mag den Kopf schütteln, doch letzten Endes muss man sich fragen, welches System objektiv gesehen mehr Kopfschütteln hervorrufen müsste, wenn so etwas überhaupt objektiv zu betrachten ist. Denn sterben müssen wir alle früher oder später, und letzten Endes liegt der nach Erfolg strebende, effiziente Europäer im selben Sarg wie der Ghanaer, der in seinem Leben vielleicht noch keinen einzigen richtigen Job hatte.
Es gibt viele Weiße, insbesondere Frauen, die einfach hierbleiben oder hierbleiben wollen. Die sich Dreadlocks machen lassen, einen ghanaischen Freund haben, das ein oder andere Tütchen Gras rauchen, Reggae hören bis zum Umfallen. Die ohne zu zögern ihr europäisches Leben aufgeben würden oder es schon aufgegeben haben. Und wieso eigentlich nicht? Was ist einzuwenden gegen wunderschöne Strände, eine angenehme Arbeit, nette Menschen, ein entspanntes Leben ohne Stress und Hektik? Ohne Busabfahrtszeiten, ohne Meetings, ohne Deadlines, ohne zwingende Bindungen ohne dicke Autos, ohne viel Technik, solange die PA für den Reggae-Sound funktioniert.
Klingt doch irgendwo verlockend. Fast ein wenig wie Urlaub das ganze Jahr. Aber Urlaub ist das falsche Wort. Kein Ghanaer ist faul, alle bemühen sich, worum auch immer, um ihren Gästen alles so angenehm wie möglich zu machen, um alles richtig zu machen, und doch ist alles etwas mehr "laid back", wie der Ghanaer sagen würde, alles etwas entspannter.
Wieso also nicht zum nächsten Barber Shop, sich Dreadlocks machen lassen, ein paar Reggae-CDs kaufen, die Zelte in Europa abbrechen, sich einen ghanaischen Partner suchen und den Rest des Lebens an der Goldküste verbringen? Objektiv betrachtet fiele mir nichts ein, was dagegen spräche.
Und doch bin ich Europäer. Meine Haare sind für Dreadlocks viel zu kurz. Das höchste der Gefühle, was ich mir an Reggae antun kann, sind Bob Marley und Seeed, wobei Seeed schon eher zu Dancehall zählt. Ghanaische Frauen? Nunja. Strand? Ja, Strand ist schön. Zwei Wochen im Jahr. Ghana ist ein großartiges Land und es kann in jeder Hinsicht stolz auf sich sein. Das Leben hier ist etwas völlig anderes und die Erfahrung auf jeden Fall wert. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben hier zu verbringen. Es wieder zu besuchen, sofort. Doch zuhause bin ich in Europa, woran ich eigentlich auch nie gezweifelt habe. Im stressigen, hektischen, egoistischen, technischen, effizienten und erfolgsorientierten Europa. Samt seiner stressigen und schnelllebigen Musik. Go, Ghana – but rooted in Europe.
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Ein Nachwuchs-Journalist versucht, auf unterhaltsame und nachdenkliche Weise seine Erfahrungen während drei Monaten in Ghana zu schildern.
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